Fünfhundert Millisekunden für ein Wort

Eine halbe Sekunde, so lange dauert es, bis wir als geübte Leser ein Wort erfassen. Welche Fülle an Prozessen sich in dieser kurzen Spanne vollzieht, führt die Autorin anhand einer Zeitleiste detailliert vor: vom Aktivieren sämtlicher Aufmerksamkeitsnetzwerke über das Erkennen und Abtasten eines Texts in Sakkaden und Fixationen bis zum Verknüpfen von Buchstaben mit Lauten und schließlich zum Abgleich mit dem gesamten individuellen Wortwissen. Eine Herkulesaufgabe, die wir spielend bewältigen.

Maryanne Wolf leitet das Center for Reading and Language Research an der Tufts University in Massachusetts. Ausgangspunkt für ihr Buch ist die Frage, wie Lesen unser Gehirn beeinflusst. So stellt sie im ersten Teil die Entwicklung der Schrift bis zum griechischen Alphabet und die dafür nötigen neurophysiologischen Anpassungen dar. Der Blick auf die Evolution zeigt einerseits, dass sich unser Gehirn strukturell kaum von dem der Menschen vor 40.000 Jahren unterscheidet. Andererseits haben die Verschriftlichung und die Fähigkeit, zu lesen, neue Kanäle zwischen Strukturen und Schaltkreisen geschaffen, die ursprünglich für evolutionär ältere Hirnprozesse wie Sehen oder Sprechen zuständig waren.

Ähnlich fällt der Befund aus, wenn es im zweiten Teil um den individuellen Leseerwerb vom Kleinkind bis zum „Leseexperten“ geht. Es kommt darauf an, verschiedene Informationsquellen miteinander zu verbinden und zu verarbeiten – vor allem visuelle mit auditorischen, sprachlichen und konzeptuellen Arealen. „Flüssiges, fortgeschrittenes Lesen vereint in sich alle kulturellen, biologischen und intellektuellen Entwicklungsschritte in der Evolution des Lesens sowie alle kognitiven, sprachlichen und affektiven Entwicklungsschritte in der persönlichen ,Naturgeschichte' des Lesers“ (S. 170).

Der dritte Teil behandelt das Thema Legasthenie als „abweichendes Muster der Hirnorganisation“ (S. 252). Umso besser lässt sich daran zeigen, so die Autorin, dass das Gehirn nicht zum Lesen gemacht wurde, dass es sich aber gerade durch seine offene Architektur, seine Plastizität auszeichnet.

Lesen verändert unser Gehirn auf vielfältige Weise, physiologisch wie intellektuell, bestimmte Bereiche der Sehrinde ebenso wie unsere Fähigkeit, zu denken, zu fühlen, Schlüsse zu ziehen und andere Menschen zu verstehen. Wie aber verändern die Lesegewohnheiten im digitalen Zeitalter unseren Zugang zu Wissen und Erkenntnis? Fördert Google womöglich eine Form von Informationsanalphabetismus? „Erzeugt eine unkontrollierte Informationsflut die Illusion von Wissen und behindert so die schwierigeren, zeitraubenden, kritischen Denkprozesse, die zur wahren Erkenntnis führen?“ (S. 259)

Auf diese Problematik kommt Maryanne Wolf immer wieder zurück. Sie erinnert an die konstruktiven und assoziativen Dimensionen des Lesens, die nicht verloren gehen dürften. Kinder bräuchten eine „Bi-“ oder „Multitextualität“, sie sollten lernen, Texte flexibel auf verschiedene Arten zu lesen und zu interpretieren, damit sie „die in geschriebenen Wörtern verborgene unsichtbare Welt entdecken können“. Am Ende des Buches steht die eindringliche Mahnung vor einer „Gesellschaft von Informationsdecodierern, die sich vom trügerischen Gefühl, alles verstanden zu haben, davon abhalten lassen, ihr geistiges Potenzial voll auszuschöpfen“ (S. 265). Ob man diese Besorgnis teilt oder nicht – das Buch bietet reichlich spannende Ansatzpunkte zum Weiterdenken, etwa über den Zusammenhang zwischen Zeitersparnis und Intellekt oder die Rolle von Verzögerungsneuronen. Ganz im Sinne der Autorin, die Proust zitierend schließt: „Das mysteriöse, unsichtbare Geschenk der Zeit, um über die Grenzen hinauszudenken, ist die größte Leistung des lesenden Gehirns.“

Ein paar Sätze noch zum Register der deutschen Ausgabe. Zahlreiche Einträge haben mehr als sieben Fundstellen, die nicht weiter differenziert sind, und Seitenangaben mit „f“ statt genauer Bereichsangaben. Auch findet sich unter „Sehrinde“ zwar ein Querverweis zu „Cortex, visueller“, dort aber fehlt etwa die relevante Fundstelle auf Seite 175. Das wäre bei den amerikanischen Indexern wohl nicht durchgegangen.

Marion Voigt, Zirndorf

wolf_gehirn_2009