Traun fürwahr
Deutsch ist laut Andreas Hock ein linguistisches Auslaufmodell. In seinem Buch Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann? fragt er sich, wie es nur so weit kommen konnte. Hock zählt in dreißig Kapiteln auf, wer und was zum Sprachverfall beiträgt. So kommen nicht nur manche Prominente, sondern auch der Deutschunterricht und die Rechtschreibreform bei ihm nicht gut weg.
Der Titel Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann?, der dem auf dem Umschlag abgebildeten Goethe in den Mund gelegt wird, ist ironisch gemeint, wie jeder Leser* unschwer erkennen kann. Nach dieser humorigen Formulierung wird es – trotz witziger und flotter Schreibe – bitterernst: Über den Niedergang unserer Sprache lautet der bedeutungsschwere Untertitel. Der Klappentext klärt auf: „Es war einmal eine Sprache, die vor lauter Poesie und Wohlklang die Menschen zu Tränen rührte. Die von Dichtern und Denkern immer weiter perfektioniert wurde. Die um ein Haar auch in der Neuen Welt gesprochen worden wäre. Das aber ist lange her – und ein für alle Mal vorbei. Heute ist Deutsch ein linguistisches Auslaufmodell!“ Wie konnte es nur so weit kommen? Sage und schreibe dreißig Erklärungen und Begründungen verheißt uns der Autor, denn jedes Kapitel ist mit Weil … überschrieben: Weil uns die Grimms Märchen erzählten, Weil wir ein Volk wurden, Weil Fußballer zu sprechen begannen.
Andreas Hock legt ganz unterschiedliche Facetten des Sprachwandels und der Sprachpflege zu einem mosaikartigen Bild und ordnet die einzelnen Mosaiksteine chronologisch an. Auf eine derartige Idee ist noch kein anderer gekommen. Bei seinem Unterfangen versteht es der Autor, die Leserin bei ihrem Vorwissen abzuholen. Viele der beschriebenen Tendenzen und Exempel kennt diese nämlich schon aus anderen Werken. Das bedeutet freilich nicht, dass Hock es der Leserin immer leicht macht. An vielen Stellen hält er sie nämlich zum Nachdenken an. Urteile findet man zuhauf, Urteilsbegründungen selten, diese hat der Autor weitgehend als Leerstellen gestaltet. So ist die Leserin gefordert, selbst herauszufinden, warum die Beatniks und Kommunarden, Rudi Carrell und Horst Hrubesch sowie die „Gebrüder“ Grimm Schuld haben am Niedergang der deutschen Sprache.
Nachvollziehbar ist das im Fall der Denglisch radebrechenden Jil Sander. Denn das, was die Modeschöpferin in einem Interview sagte, sei womöglich „Ausdruck eines fortschreitenden sprachlichen Verfalls unserer Gesellschaft, der seitdem nicht besser geworden ist“. Ja, manche Formulierung ist wirklich unbedacht. Klar erscheint die Kritik auch im Fall von Adolf Hitler und seinen Gefolgsleuten: Die Nazis hätten die deutsche Sprache schwer beschädigt, indem sie Superlative gebraucht sowie Euphemismen erfunden und so die deutsche Sprache um wertvolle Wörter gebracht hätten, lautet die Argumentation. Denn wir können Ausdrücke aus dem Wörterbuch des Unmenschen nicht mehr benutzen: Sonderbehandlung oder Endlösung sind tabu. Wie schade, möchte man Hock fast erwidern.
In mehreren Kapiteln setzt sich der Autor mit dem Deutschunterricht und seinem Beitrag zu der Misere auseinander. Seine Vorschläge für einen literarischen Kanon: Luthers Kinderbibel, Goethes Werther, Karl May sowie Comics. Letztere läsen die Schüler sowieso, also könnten sie gleich im Unterricht behandelt werden und so zu den Klassikern der deutschen Literatur hinführen. Hier geht es Hock nicht etwa um literatursoziologische Kategorien, wie ein naiver Deutschlehrer vermuten könnte, sondern um die onomatopoetische Kreativität und Kraft, die Comics entfalten: Ächz, Stöhn, Würg … Und auch der Werther und die frühe Liebeslyrik von Goethe eignen sich nach Hock ganz hervorragend, Jugendliche motivational abzuholen. An diesen Werken und den sodann zugänglicheren Klassikern wie der Iphigenie auf Tauris könnten die Schülerinnen ihre stilistische Kompetenz ausbilden.
Ein solcher stilbildender Deutschunterricht blieb Andreas Hock leider versagt. So musste er sich offenbar vieles autodidaktisch aneignen. Das hat zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt, beispielsweise zu seiner Vorliebe für anspruchsvolle Alliterationen („wahre Welle“, „pubertierende Pennäler“, „blumige Botschaften“, „schiere Schnelligkeit“). Keinesfalls unerwähnt werden sollte seine Liebe zu Adjektiven, deren er sich reichlich bedient. Ihm gelingt das Kunststück, auch bei längeren Sätzen jedes Substantiv mit einem Adjektiv zu schmücken. Das bedeutet freilich nicht, dass der Autor lange unverständliche Sätze bildet. Er liebt vielmehr kurze und kraftvolle Aussagen und bringt es auf den Punkt: Feministische Sprachkritik ist „Schwachsinn“, die Sprachpflege der historischen Sprachakademie Fruchtbringende Gesellschaft hingegen „machte Sinn“.
Entschieden auch Hocks Ablehnung von Anglizismen: Er konstatiert eine „wahre Welle englischer Begrifflichkeiten“ und wendet sich gegen den „Trend zu mehr oder weniger bescheuerten Begrifflichkeiten aus dem Angelsächsischen“. Dabei kann man ihm nicht vorwerfen, er ginge nicht mit der Zeit. Wie viele andere ersetzt er Begriff durch Begrifflichkeit. Auch anderswo demonstriert Hock seinen kreativen Umgang mit Fachbegriffen: „Linguistische Entfremdung“, „linguistisches Überbleibsel“ oder „linguistisch wildes Heimatreich“ sind nur wenige Beispiele für viele, bei denen er sprachlich meint und linguistisch schreibt.
Auch der Grammatikbegriff wird neu interpretiert, vor allem auf der Folie der Rechtschreibung. Nach der Reform der Rechtschreibreform „ist unsere Grammatik ein Trümmerhaufen“, konstatiert Hock. Oder: Er kritisiert die „grammatikalische Anarchie“ in E-Mails, wenn „sprachliche Anomalien“ wie Rechtschreibfehler und Buchstabendreher den Schreibern und Lesern gleichgültig sind. Überhaupt die Reform: Die als Grund angeführte fehlerhafte Rechtschreibung hätte weniger an den herkömmlichen Rechtschreibregeln gelegen als vielmehr pathologische Ursachen wie Legasthenie und Analphabetismus gehabt. Den betroffenen Menschen wäre statt einer Rechtschreibreform besser eine Therapie beim Logopäden zuteil geworden. Man ist fast versucht zu sagen, dass all diese Begrifflichkeiten Hocks Sachbuch eine geradezu linguistische Untiefe verleihen, vergleichbar den Bestsellern von Bastian Sick. Und wie Sick hat sich auch Hock der Rettung des Genitivs verschrieben: Den Verein Deutsche Sprache benennt er kurzerhand in den „Verein der Deutschen Sprache“ um.
Neben den Anglizismen, denen er fünf Kapitel widmet, behandelt Hock auch Gallizismen. Die Berliner müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, zum Niedergang der deutschen Sprache beigetragen zu haben. Denn sie haben neben dem Trottoir auch die Bulette aus dem Französischen (boulette) übernommen. Leider versäumt es der Autor, darauf hinzuweisen, dass auch die Frikadelle die deutsche Sprache korrumpiert, schließlich ist sie eine Verballhornung der italienischen frittatella. So erweisen sich die Bayern als die besseren Deutschen, ihr Fleischpflanzerl dürfte unverdächtig sein. Aufgrund der rigiden Sprachpolitik der Franzosen ist es schwierig, sich bei ihnen zu revanchieren, doch haben wir uns mit bratwurst und rollmop an den Amerikanern gerächt und so – in Hock’scher linguistischer Logik – die englische Sprache beschädigt.
Oder auch nicht. Denn Hock legt durchaus eine gewisse Flexibilität an den Tag, was seine Maßstäbe anbelangt. Er scheut sich keineswegs, selbst Anglizismen und Gallizismen zu benutzen, letztere sogar in dem Kapitel über Gallizismen. Und in seiner Liste bedrohter Wörter, für deren Erhalt er sich einsetzt, tauchen etliche Lehnwörter aus dem Französischen auf: von blümerant über Kanapee bis Pelerine. Wie gut, dass er „Großmeister“ Goethe bemühen kann, der dem Französischen nicht abgeneigt war.
Am vehementesten macht Hock die Rechtschreibreform für den Niedergang der deutschen Sprache verantwortlich. Nein, nicht die von 1901, bei der das c durch k ersetzt (Kompanie statt Companie) und in vielen Wörtern das h hinter dem t gestrichen (teuer statt theuer) worden ist und der Konrad Duden wohlwollend zustimmte. Nein, die von 1996 bzw. 2006, bei der das ph wahlweise durch f ersetzt (Delphin/Delfin) und in den verbliebenen Fremdwörtern das h nach dem t nicht gestrichen (unverändert Theater oder Thron) worden ist. Diese „sogenannte Reform“ hat dramatische Folgen gezeitigt: „Chaos, Anarchie und Tumult in unserer Sprache“, einen „irreparablen Schaden für das Deutsche“ und die „linguistische Verwahrlosung eines ganzen Landes“. Angesichts einer solchen Einschätzung ist es verwunderlich, dass der Autor noch vom „Niedergang unserer Sprache“ und nicht schon vom „Untergang“ spricht. Hat er sich einen Funken Hoffnung bewahrt?
Offenkundig, denn im letzten Kapitel präsentiert er uns eine Liste kaum oder nicht mehr verwendeter (im Duden-Jargon: veralteter/veraltender) Wörter, in der Hoffnung, dass sie und Hunderte „weitere, wunderbare Begrifflichkeiten“ nicht aus unserem Sprachgebrauch verschwinden und so – das darf man unterstellen – den Niedergang unserer Sprache ein wenig aufhalten: Backfisch, Freudenmädchen, Gassenhauer, Hofschranze, inkommodieren, Mohammedaner.
Ich kenne kaum ein anderes Buch, bei dessen aufmerksamer Lektüre Lektorinnen und Lektoren so viel lernen können. Und selten habe ich ein Cover gesehen, das ein Buch so trefflich illustriert: Abgebildet ist ein grimmiger und genervter augenverdrehender Goethe (eigentlich schielender Goethe, doch wollen wir nicht kritikastern, das Bemühen zählt). Nur ein kleiner Einwand sei an dieser Stelle gestattet. Der Untertitel greift etwas zu kurz: Über den Niedergang unserer Sprache und Kultur wäre für dieses Werk noch treffender gewesen. Traun fürwahr.
Joachim Fries
* In diesem Text werden nach Möglichkeit abwechselnd weibliche und männliche Formen verwendet. In der Regel sind immer alle Geschlechter gemeint.
Erhältlich als Buch, E-Book und Hörbuch z. B. bei buch7.de, buchhandel.de oder direkt beim Verlag.
Joachim Fries im Lektorenverzeichnis