Wörter am Pranger

Von Absetzbewegung über Indianer bis zu Zwerg: Welchen Ursprung haben die Wörter, die heute angeprangert werden? Nicht immer ist das so eindeutig zu beantworten wie landläufig gedacht. Das zeigen die Bücher „Verbrannte Wörter“ und „Kaputte Wörter?“. Autor Matthias Heine bewertet diese vor dem Kontext, in den sie heute gestellt werden – und das ganz ohne erhobenen Zeigefinger.

Was haben die Wörter Absetzbewegung, Groschengrab, Kulturschaffende und entrümpeln gemeinsam? Die Antwort liegt nicht gleich auf der Hand: Es sind Wortprägungen der Nazis. Absetzbewegung war wie Frontbegradigung ein Euphemismus, um den Rückzug im Zweiten Weltkrieg zu kaschieren. Als Kulturschaffende wurden die Angehörigen der Reichskulturkammer bezeichnet. Das Groschengrab kam als Metapher für Süßigkeitenautomaten auf. Und Entrümpelung meinte eine Brandschutzmaßnahme bei den Luftangriffen der Alliierten.

Und die Wörter Konzentrationslager, Parteigenosse, Untermensch und zersetzen? Sie sind entgegen der landläufigen Meinung keine NS-Wortschöpfungen, sondern schon vorher in Gebrauch gewesen, wenn auch vom NS-Staat in sein Vokabular übernommen.

Man kann sich also bei der Zuschreibung der Urheberschaft von Wörtern leicht täuschen. Das ist eine der Lehren, die man aus dem Buch „Verbrannte Wörter“ von Matthias Heine ziehen kann. Wie viele andere, die sich an Sprache und Sprachkritik versuchen, ist Heine Journalist, und wie wenige andere als Linguist und Historiker vom Fach. Das kommt dem Buch sichtlich zugute. Was es auszeichnet, ist die Begriffs- und Wortgeschichte, die Heine zu seinen 87 Lemmata von A wie Absetzbewegung bis Z wie zersetzen skizziert. So wird deutlich, dass viele NS-Ausdrücke dem Nationalismus, Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus, aber auch der Aufklärung entstammen. In der NS-Sprachpolitik wurde dann manchmal eine Bedeutungsvariante durchgesetzt, manchmal ein Bedeutungswandel vollzogen.

Ein Beispiel: Das Wort Euthanasie kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen (euthanasia), wo es „leichter, schöner Tod“ bedeutet. Im 19. Jahrhundert wurde es in der Medizin für die Erleichterung des Todes durch Schmerzlinderung verwendet. Nach dem Ersten Weltkrieg warf der Sozialdarwinismus seine Schatten voraus: Mit dem Wort wurde die Auslöschung von „Ballastexistenzen“ bezeichnet. In diesem Sinne gebrauchten es die Nazis bekanntlich als Euphemismus für die Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen. Das Wort ist verbrannt und wird heutzutage in der Diskussion um aktive Sterbehilfe von den Befürwortern tunlichst gemieden und allenfalls von den Gegnern zum polemischen Framing genutzt.

Bei seiner Darstellung bezieht sich Matthias Heine oft auf die Klassiker: das „Vokabular des Nationalsozialismus“ von Cornelia Schmitz-Berning, Victor Klemperers „Lingua Tertii Imperii“ sowie das „Wörterbuch des Unmenschen“ von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind. Da darf dann auch das Stichwort Betreuung/betreuen nicht fehlen. Heine folgt im Kern dem Verdammungsurteil Sternbergers; vermisst habe ich einen Hinweis auf Sternbergers Kontrahenten Herbert Kolb und Peter von Polenz, die im legendären Streit um die Sprachkritik eine linguistisch überzeugendere Position vertreten haben. Neben der Fachliteratur beruft sich Heine auch auf eigene Recherchen. Viele Zitate aus zeitgenössischen Politikerreden, Zeitschriftenartikeln oder Wehrmachtsberichten belegen und veranschaulichen seine Ausführungen.

Das zweite, was Heines Buch wohltuend von anderen abhebt, ist das Fehlen pauschaler Verdikte und eines permanent erhobenen Zeigefingers („Das Wort ist verbrannt und darf nicht mehr benutzt werden!“). Vielmehr bewertet Matthias Heine inkriminierte Wörter vor dem Kontext, in den sie heute gestellt werden. So bewegen sich seine Empfehlungen auf einer Skala von „sollte keinesfalls mehr verwendet werden“ bis „kann bedenkenlos weiterhin verwendet werden“. Als unsagbar verurteilt werden entarten, Euthanasie, Herrenrasse, lebensunwertes Leben oder zersetzen, freigesprochen werden Groschengrab, Eintopf, entrümpeln, Mädel und sonnig. Manchmal überrascht die Urteilsbegründung: „Das Wort Rasse sollte man nicht meiden, weil es NS-Deutsch ist, sondern weil es Quatsch ist.“

Gelegentlich fällt mir Heines Urteil dann doch zu milde aus. Ein Beispiel: Der Ausdruck Sonderbehandlung als Euphemismus für die Ermordung von Millionen Menschen ist meiner Meinung nach durchaus verbrannt. Heine kritisiert den Sprachgebrauch von Spiegel Online („Sonderbehandlung Israels“ durch Deutschland) nur als „geschichtsvergessen“, lässt aber ansonsten Sonderbehandlung im Sinne der Vorzugsbehandlung (übrigens im Einklang mit dem Duden) davonkommen. Aber was spricht dagegen, genau dieses ungeschminkte Wort zu benutzen und auf das belastete gänzlich zu verzichten?

Apropos Geschichtsbewusstsein: Geschichte wiederholt sich nicht, Sprachgeschichte schon. So verbot eine Presseanweisung nach dem Überfall Deutschlands auf Polen den verräterischen Ausdruck Krieg, man sprach (und spricht bis heute) verharmlosend von einem Feldzug. Wer fühlt sich da nicht an den Überfall Russlands auf die Ukraine und die sanktionsbewehrte Sprachregelung erinnert, nicht von einem Krieg, sondern einer militärischen Spezialoperation zu sprechen? Heine hätte wohl diese Parallele erwähnt, wäre sein Buch nicht schon 2019 erschienen.

Drei Jahre später, 2022, hat er mit dem Buch „Kaputte Wörter?“ nachgelegt. Im Unterschied zum ersten ist der zweite Titel mit einem Fragezeichen versehen. Das ändert aber nichts an dem grundsätzlichen Vorgehen: Matthias Heine befragt Wörter daraufhin, ob sie noch verwendet werden können. Die 78 Lemmata von Abtreibung bis Zwerg sind jeweils – das ist ein formaler Unterschied zum ersten Werk – in vier Abschnitte gegliedert: Ursprung, Gebrauch, Kritik und Einschätzung. Sprachhistorisch Interessierte kommen auf ihre Kosten: Heine zeigt auf, wann und wo ein Wort erstmals aufgetreten ist und wie es in der Folge semantisch gebraucht worden ist. Danach wendet er sich der Kritik zu, die an dem Wort oder Wortgebrauch geübt wurde und wird, bevor er abschließend seine eigene Einschätzung äußert. Für vehemente Sprachkritiker und -kritikerinnen oft recht enttäuschend: Wie schon im Vorgängerbuch reicht das Spektrum von Ablehnung bis Zustimmung zu öffentlich geforderten Sprachtabus. Dabei fällt sein Urteil meist nüchtern aus, gelegentlich trieft es aber auch von Ironie und Sarkasmus, Stilmitteln, die Heine exzellent beherrscht (und deren Einsatz ich mir öfter gewünscht hätte).

Ein beispielhafter Schwerpunkt liegt auf Fremdbezeichnungen für Volksgruppen: Eskimos, Hottentotten, Indianer, Mohren, Neger, Zigeuner. Während die Ausdrücke Zigeuner, Hottentotten und Neger negativ konnotiert und diskriminierend sind und deshalb nicht mehr gebraucht werden sollten, ist der Mohr – so Heine – sprachgeschichtlich sogar positiv besetzt und daher unbedenklich. Dass Eskimo entgegen einer früheren Übersetzung nicht „Rohfleischesser“ bedeutet und insofern keine Beleidigung darstellt, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Was für viele neu sein dürfte: Auch der Ausdruck Inuit ist nicht unproblematisch, weil er nur eine einzige indigene Gruppe in der Polarregion umfasst und andere ausgrenzt oder beleidigt. Vergleichbares Problem: Die Eigenbezeichnungen Sinti und Roma decken vom Begriffsumfang nicht alle früher als Zigeuner bezeichneten Gruppen ab, wie die Diskussion um das Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin eindrücklich gezeigt hat.

Ebenfalls in Berlin bekannte eine Politikerin in einem Interview, sie habe als Kind Indianerhäuptling werden wollen. Das brachte ihr harsche Kritik aus den eigenen Reihen und einen Canossagang ein. Keine Frage: Das politisch korrekte Kind will natürlich nicht Indianerhäuptling, sondern Oberhaupt einer indigenen Bevölkerungsgruppe in Nordamerika werden und das I-Wort, wenn überhaupt, nur sehr verschämt in den Mund nehmen. Wobei dann immer noch der Akt kultureller Aneignung bliebe, den das Kind beim Indianerspielen beginge. Solche Auswüchse offenbaren die Absurdität mancher Sprachregelungsversuche. Heine belegt, dass der Ausdruck Indianer hier und heute weder eine Verwechslung mit Indern nahelegt noch eine Herabwürdigung darstellt. Wir haben ein oft verzerrtes, doch recht positives Indianerbild. Ferner verweist Heine darauf, dass das englische Indian keineswegs von allen indigenen Gruppen als diskriminierend empfunden und teilweise weiterhin als Eigenbezeichnung für ihre Territorien benutzt wird. Auch hierzulande hätten keine Betroffenen Anstoß an der beanstandeten Äußerung genommen. Es gibt Fälle von ungebetener Allyship, bei denen man sich fragen kann, ob eher die Fremdbezeichnung oder eher die Fremdbestimmung die Betroffenen entwürdigt.

Dennoch will Heine auf das Wort Indianer in bestimmten Kontexten verzichten: „Wenn Sie tatsächlich einmal einem Indianer begegnen, sollten Sie ihn ohnehin als Mitglied seines Stammes anreden, denn als Deutscher fänden Sie es vermutlich ebenso befremdlich, wenn man Sie ausschließlich mit dem unspezifischen Ausdruck Europäer bezeichnen würde.“ Wobei es allerdings bei den Indigenen in Amerika nicht nur Stämme, sondern auch Völker und Nationen gibt …

Fraglos kann man leicht in sprachlichen Fallen tappen. Aber nicht jede vermeintliche Falle ist auch eine, und gelegentlich erweist sich eine tatsächliche Falle als selbst gebaute. Es mutet schon seltsam an, wenn sogar in metasprachlichen Diskursen Wörter tabuisiert werden, bloß um sie nicht zu reproduzieren: I-Wort, N-Wort, Z-Wort. Heine hält dem entgegen, dass auch bei der Verwendung solcher Kurzworte eine mentale Reproduktion erfolge. Wie dem auch sei: Eine Sprachkritik, in der schon tabu ist, das Kind beim Namen zu nennen, erinnert mich an Rumpelstilzchen. Die angenommene Allmacht der Wörter beruht auf einem naiven magischen Sprachrealismus, der das wechselseitige und vielschichtige Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit verkennt. Die Sprache beeinflusst das Denken, aber sie bestimmt es nicht. Das gilt auch für Tabuwörter.

Mein Fazit: Matthias Heine hat zwei sehr lesenswerte Bücher geschrieben, in stilistischer wie inhaltlicher Hinsicht. Er zeigt, welche Wörter tunlichst vermieden werden sollten und welche bedenkenlos verwendet werden können, jenseits linguistisch fragwürdiger Meinungen. Auch wenn der Leser, die Leserin nicht jeder seiner abschließenden Einschätzung folgen muss: Heine informiert, argumentiert und sensibilisiert. Ich hätte mir nur gewünscht, dass er beim Thema geschlechtergerechte Sprache selbst mehr sensibilisiert gewesen wäre: Sein völliger Verzicht aufs Gendern erscheint nicht mehr zeitgemäß.

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