Warum Deutsch liebenswert ist
Roland Kaehlbrandt, Professor für Sprachwissenschaft an der Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft, ist ein bekannter und bekennender Liebhaber der deutschen Sprache. In allen seinen Büchern ist diese Liebe zu spüren. Explizit bekundet er sie nun in seinem neuen Werk Deutsch – eine Liebeserklärung. Zehn Vorzüge sind es, die seine Liebe stiften.
Erster Vorzug: einfühlsam und ausdrucksstark. Gleich dieses erste Kapitel überrascht, hier geht es nämlich um die oft geschmähten Partikeln, die jedoch eine wichtige kommunikative Funktion erfüllen: Sie dienen der Nuancierung. So finden selbst genau, megakrass und ganz ehrlich Kaehlbrandts Verständnis und Zustimmung.
Zweiter Vorzug: geschmeidig in der Wortbildung. Die Wortbildung im Deutschen beruht im Wesentlichen auf Komposition und Derivation. Diese Verfahren erlauben eine schier unendliche Menge und Vielfalt von Wörtern, die kein Korpus, geschweige denn ein Lexikon abzubilden vermag. So lassen sich aus acht Tausend nativen Wörtern achtzehn Millionen des Dudenkorpus bilden. Deutsch ist wirklich eine Legosprache mit praktisch unbegrenzten Möglichkeiten bis hin zu einem Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz.
Dritter Vorzug: gelenkig im Satzbau. Die deutsche Sprache kennt feste Satzbaupläne wie die Verbzweitstellung im Hauptsatz und die Verbendstellung im Nebensatz. Gleichwohl ist eine enorme Variabilität gegeben: Durch Betonung oder Umstellung anderer Satzglieder können Bedeutungsnuancen ausgedrückt werden.
Vierter Vorzug: schnell und kurz, wenn es sein muss. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf dem Jugendjargon, vor allem in den Social Media. Durch Kurzformen und Ellipsen wird Deutsch zu einem „Hochgeschwindigkeitsdeutsch“. Das Messen an der Bildungssprache oder der Vorwurf des Sprachverfalls verbieten sich; auch ein Stakkatostil mit lassma, iwi und lol kann kommunikativ adäquat und funktional sein, wie Kaehlbrandt zeigt.
Fünfter Vorzug: leserfreundlich in der Rechtschreibung. Die deutsche Rechtschreibung beruht im Wesentlichen auf dem phonologischen und dem morphologischen Prinzip, die Zeichensetzung auf dem syntaktischen Prinzip. Dies, aber auch die Großschreibung von Substantiven und Substantivierungen, macht das Deutsche grundsätzlich leserfreundlich und diesbezüglich auch – etwa im Vergleich zum Englischen – lernfreundlich.
Sechster Vorzug: normiert als Standardsprache. Das Deutsche ist als Standardsprache normiert, es ist Verwaltungs- und Rechtssprache und Amtssprache in sieben Ländern. Das beruht auf seinem Charakter als Schriftsprache, aber auch auf seiner umfassenden grammatischen Beschreibung, die ihresgleichen sucht. Der kodifizierten Sprachnorm steht der permanente Sprachwandel gegenüber.
Siebter Vorzug: verfeinert als Literatur- und Bildungssprache. „Gutes Deutsch ist mehr als nur richtiges Deutsch. Es ist zumindest angemessenes Deutsch.“ (S. 127). Aber darin erschöpft es sich nicht, wie die von Kaehlbrandt angeführten Beispiele für guten Stil von Thomas Mann über Stefan Zweig, Anna Seghers und Ulla Hahn bis Robert Schneider zeigen. Neben die Literatursprache tritt die Bildungssprache: „Bildungsdeutsch ist ein Denk- und Sprachstil […,] ist gewissermaßen die Sprache vernünftigen Denkens.“ (S. 144)
Achter Vorzug: vielfältig und weitverbreitet. Deutsch ist eine plurizentrische Sprache mit etlichen Standardvarietäten, nicht nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sondern auch in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien, Südtirol, Rumänien und Namibia. Weltweit sprechen über 100 Millionen Menschen Deutsch als Muttersprache und fast 200 Millionen als Fremdsprache. Neben den Standardvarietäten tragen auch etliche Dialekte zur Vielfalt bei.
Neunter Vorzug: aufnahmewillig und integrationsfähig. Zahllose Fremdwörter und Lehnwörter bereichern die deutsche Sprache. Bereitwillig werden sie grammatikalisch integriert. Darum geht es in diesem Kapitel. Aber auch um Einwanderer und Einwanderinnen, die deutsch sprechen und schreiben, die sich die deutsche Sprache angeeignet haben und mit ihr ringen, um Literatur und Kiezdeutsch.
Zehnter Vorzug: aus der Mitte der Gesellschaft geschaffen. Im letzten Kapitel erzählt der Autor eine kurze Sprachgeschichte vom Lutherdeutsch bis zum Gegenwartsdeutsch. Das Deutsche musste sich gegen zwei mächtige Widersacher durchsetzen: Latein als Sprache der Wissenschaften und Französisch als Sprache der Höfe. Dies gelang dem Bildungsbürgertum, insofern ist Deutsch als Verkehrssprache aus der Mitte der Gesellschaft entstanden.
Es ist keine blinde Liebe, die Kaehlbrandt für die deutsche Sprache hegt. Es ist eine wohlerwogene, gereifte Liebe, die angesichts der vielen Vorzüge den einen oder anderen Mangel durchaus bemerkt, aber mit Nachsicht behandelt, sowohl, was die Langue, als auch, was die Parole anbelangt. Darin kann man Kaehlbrandt durchaus folgen. Ob man ihm auch folgen muss, wenn er etwa die Verbklammer als Vorzug preist, weil sie einen synthetischen Blick ermögliche, sei dahingestellt.
Kaehlbrandt schreibt nicht nur über Bildungsdeutsch, sondern er schreibt auch Bildungsdeutsch. Es sind wohlformulierte und stets verständliche Sätze, die man mit Vergnügen liest. Seine persönlichen Erfahrungen, die er gelegentlich einflicht, lockern auf und lassen manchmal schmunzeln. Auch wenn das eine oder andere bekannt sein mag, ermöglicht das Buch einen ungewöhnlichen Blick auf die deutsche Sprache. Das Wichtigste jedoch: Kaehlbrandt räumt mit manchem Vorurteil auf und regt so die Leserin, den Leser zum Nachdenken und Überdenken an.
Leider gibt es einige Ungenauigkeiten, die sich auch in einem Sachbuch verbieten. Drei Beispiele seien genannt:
Erstens: Kaehlbrandt setzt den aktiven Wortschatz eines Muttersprachlers mit gutem Bildungsabschluss mit 10.000 Wörtern an (S. 31). Kurz darauf schreibt er: „Ein 15-Jähriger beherrscht 15.000 Wörter aktiv […]“ (S. 32). Das passt nicht zusammen, geht man nicht von der abwegigen Vorstellung aus, dass sich der aktive Wortschatz nach der Jugend verringert. Ob sich Kaehlbrandt auf unterschiedliche Quellen bezieht oder der Widerspruch einer nachlässigen Formulierung geschuldet ist, lässt sich nicht entscheiden.
Zweitens: In Zusammenhang mit der fehlerhaften Verwendung von außer bei der Verbendstellung zitiert Roland Kaehlbrandt (ohne Beleg) Rudi Keller, der eine Theorie des Sprachwandels entwickelt hat: „Der Lehrsatz des Sprachwissenschaftlers Rudi Keller ‚Die Fehler von heute sind die Normen von morgen‘ stimmt nicht immer.“ (S. 122). Doch das sagt Keller so nicht. Er schreibt wörtlich: „Die systematischen Fehler von heute sind die neuen Regeln von morgen.“¹ Genau deshalb widerlegt Kaehlbrandts Beispiel nicht die Aussage von Keller, sondern bestätigt sie eher: Erst wenn eine kritische Fehlermasse erreicht ist, kommt es zu einer konkurrierenden oder neuen Regel, zur Grammatikänderung und zum Sprachwandel.
Drittens: Im Kapitel zur Rechtschreibung findet sich der Satz: „Um die Einheit der Rechtschreibung weitestmöglich zu bewahren, gibt es […] eine Institution, die Regeln festsetzt: der Rat für deutsche Rechtschreibung.“ (S. 91) Das trifft zumindest für das größte deutschsprachige Land bekanntlich nicht zu. Zwar erwähnt Kaehlbrandt an späterer Stelle (S. 116) die Rolle der Kultusministerkonferenz als beschlussfassendem Organ, doch die Normsetzung beschränkt sich auf Schulen und Verwaltungen. Für alle anderen stellt das Regelwerk eine unverbindliche Empfehlung dar. Könnte man eine allerorten verbindliche Rechtschreibung tatsächlich als Vorzug werten, kann man eine unverbindliche Empfehlung ebenso gut als Mangel ansehen.
Trotz solcher Ungenauigkeiten soll eine klare Leseempfehlung gegeben werden, für Lektorinnen und Lektoren und alle, die sich für Sprache und zumal die deutsche interessieren.
1 Keller, R. Sprachwandel. BDÜ 2000: Faszination Sprache – Herausforderung Übersetzung. O. O. u. J., S. 14 (Hervorh. v. J. F.).