… aber ein echt cooles Cover
Haben wir ein Geschlecht oder entwickeln wir es erst? Welchen Einfluss hat unsere Biologie auf uns, welchen haben geschlechtsstereotypgeprägte Umwelt und Sprache? Letztendlich ist die Frage: Wie ermöglichen wir Mädchen und Jungen, besser: Wie ermöglichen wir Kindern in ihren Lebensentwürfen frei zu sein? Die Hoffnung dahinter sind nicht nur glücklichere Menschen, sondern auch eine gerechtere und bessere Gesellschaft. Der Themenkomplex ist ein Dauerbrenner.
Auch die Professorin für germanistische Linguistik Hilke Elsen beteiligt sich mit ihrer Arbeit an der Verwirklichung des Traums, Geschlechtergerechtigkeit für Jungs und Mädchen, Frauen und Männer in unserer Gesellschaft zu erreichen. Sie wählt mit diesem Buch den Weg, aufzuklären und so zu sensibilisieren. Wie alle, die in diesem Themenkomplex arbeiten, untersteht die Autorin dem Paradox, dass es nötig ist, Geschlecht in den Fokus zu rücken, trotz des eigentlichen Ziels, dass Geschlecht bei (Lebens-)Entscheidungen keine Rolle mehr spielen soll, es also aus dem Fokus zu nehmen.
Und Elsen spricht an, dass die biologischen geschlechtlichen Gegebenheiten vielfältig sind. Für Elsen besteht deshalb für das vorgelegte Buch ein Dilemma, nämlich „einerseits theoretisch auf dem neuesten Stand sein zu wollen, andererseits aber zunächst ein Umdenken mit praktikablen und akzeptablen Alternativen zu fördern“ (Vorwort, S. 15). Sie nennt ihre Entscheidung, vor allem auf die binären Pole weiblich/männlich einzugehen, einen „pragmatischen Kompromiss“ (ebd.).
Das Cover
Das Cover verspricht viel. Das Foto von Katrina Elena ist witzig, bringt das Thema auf den Punkt und ist gleichzeitig vielschichtig. Es erzeugt zusammen mit dem Titel eine hohe Erwartungshaltung. Leider hält das Buch sein Versprechen nicht. Dabei ist im Grunde alles drin, aber es fehlen Witz, zu oft Anschaulichkeit sowie eine ausreichende (Ein- und Zu-)Ordnung des Vielen.
Ich gebe zu, Witz ist schwer bei diesem Thema. Der Humor wäre wohl eher schwarz bzw. hellblau-rosa und trüge das große Risiko, mit oder ohne Absicht missverstanden zu werden. Aber den Rest darf die Leser+in erwarten.
Das Buch
Das Buch „will die Genderkompetenz der Erwachsenen fördern“ und „den Einfluss von Sprache auf die Wahrnehmung von Geschlechtsrollen bewusst machen“ (Vorwort, S. 14), was durch die vielen angeführten Studienergebnisse bei aufgeschlossenen Leser+innen sicher auch gelingen kann, obwohl zu oft die Versuche nicht verständlich genug und damit nicht einprägsam genug beschrieben sind. Interessant sind die ebenfalls zahlreichen Ausführungen zu stereotypem Verhalten und Wahrnehmen, inklusive zur Entstehung von Geburt an, aber auch zu den durchaus unterschiedlichen Ausprägungen.
Angesprochen seien mit dem Buch „vor allem aber diejenigen, die mit der Betreuung von Kindern und Jugendlichen zu tun haben (werden), […]. Daher runden praktische Anregungen für den Schulalltag die Ausführungen ab“ (S. 14 f.). Diese Unterrichtshinweise bleiben meines Erachtens jedoch sehr im Allgemeinen, teils berücksichtigen sie vorherige Aussagen nicht, z. B.: die Aufforderung, geschlechtsneutrale Formulierungen zu verwenden (S. 236), vs. „Neutrale Formulierungen rufen keine Verbesserung in der Wahrnehmung [von Frauen] hervor“ (S. 89), im Gegenteil werde „Stereotypenwissen […] herangezogen, wenn grammatisch-lexikalisches Wissen keine klare Zuordnung zulässt“ (S. 94).
Eine Anleitung zum Gendern im Sinne der Vermeidung des sogenannten generischen Maskulinums ist dieses Buch nicht; es liefert die Hintergründe. Dennoch zählt Elsen in Kapitel 5.4 einige Alternativen auf und sie gibt (leider verstreut) Hinweise, dass gewählte Alternativformen Konsequenzen haben; z. B. dass „Neutralformen zu eher männlichen, das Binnen-I zu eher weiblichen Interpretationen führen“ (S. 95).
Der Band ist bei UTB erschienen, einer „Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lehrmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.“ (Zitat von der Buchrückseite).
Das Buch hat ein 38-seitiges Literaturverzeichnis, unkommentiert. Kapitel 14 „Vorschläge für den Unterricht“ ist gerade mal 8 Seiten lang (38:8 hätte mich stutzig werden lassen sollen). Außerdem heißt das jeweils vorletzte Unterkapitel „Forschungsaufgaben“, es richtet sich damit klar an Studierende, die eine Idee für ihre Abschlussarbeit suchen.
Für wen ist das Buch?
Das Buch ist also eigentlich explizit nicht für mich und meinen Berufsstand Lektor+in gedacht.
Trotzdem bin ich enttäuscht. Warum? – Wegen des eigentlich. Denn selbstverständlich gehört zu unserem, im Grunde zu jedem Beruf dazu, auf aktuellem Stand zu bleiben. Was würde sich da besser eignen als ein aktuelles Einführungswerk?
Folglich hatte ich mir Folgendes erhofft, zumal die Autorin Linguistin ist und den Transfer ins Praktische angekündigt hat: eine übersichtliche, nachvollziehbar bewertende Darstellung des Stands der Forschung, einen kommentierten Überblick über die sprachlichen Konsequenzen daraus sowie viele konkrete Beispiele. Denn das brauche ich für meine Arbeit als Lektorin: aufbereitetes Wissen und anschauliche Argumente. Als Lehrkraft für Schreiben und Lesen hätte ich auch gern noch Tipps für den Unterricht mitgenommen. Ich habe alles drei nicht ausreichend bekommen.
Elsens Buch ist gut für Studierende, die ein Thema für eine Abschlussarbeit brauchen und sich ohnehin mit der ganzen Sekundärliteratur herumschlagen müssen. Für alle anderen ist dieses Buch deutlich zu wenig serviceorientiert geschrieben.
Das hat mich gestört
Die Überschriften sind insgesamt angenehm sprechend. Sie tun, was sie sollen: aussagen, was folgt. Leider kommt es aber vor, dass ein Text nicht (ganz) zu seiner Überschrift passt. Unter „Erste Studien“ (Kap. 9.3.1) führt Elsen auch eine von 2014 auf. Kapitel 10.1 „Geschlechtsidentität“ sagt zwar anfangs viel zu Identitätsentwicklung und Wahrnehmung des (eigenen) Geschlechts, aber die letzten Absätze behandeln die Unterschiede in der sozialen Kompetenz.
In Kapital 12.2 „Weitere Fächer: Naturwissenschaften“ geht es tatsächlich aber nur um Schulbücher zu Deutsch und Mathe. – Das ist auch inhaltlich verschenkt. Denn Bio-Unterricht kann sich gut damit befassen, welche Auswirkungen es auf Frauen und Kinder hat, wenn der Mann für den Menschen an sich steht und Medikamente u. a. deshalb oft nur an jungen Männern getestet werden. Oder in Informatik: Wenn Algorithmen unreflektiert hauptsächlich mit männlichen Daten gefüttert werden, was passiert dann? Ach, es gäbe so viele im Unterricht behandelbare Beispiele dafür, dass es einen Unterschied im ganz konkreten Alltag macht, teils für Leib und Leben, ob und wie auf Geschlecht und Gender geschaut wird. Es wäre schön, wenn dieser Blick in Schule und Berufsausbildung in allen Bereichen geschärft würde.
Sehr irritierend sind in Elsens Buch die großen Zeitsprünge bei Sekundärliteratur und Studien, oder Formulierungen wie „bereits seit einigen Jahren […] untersucht“, wenn dann eine Studie von 1980 folgt (S. 217). Seit einigen Jahren sollte doch wohl zumindest in diesem Jahrtausend liegen.
Ich möchte von der Expertin eingeordnet bekommen, ob/warum Ergebnisse von Studien, die 30, 40 oder 50 Jahre auseinanderliegen, nebeneinander gültig sein können. Elsen deutet diesen Aspekt selbst an (S. 162: „Allerdings fehlt noch der geschichtliche Aspekt: Sind Daten aus den 70er, 80er Jahren überhaupt mit der aktuellen Situation vergleichbar […]?“ Siehe auch S. 161 oder S. 211 zu Englischbüchern), sie zieht aber keine Konsequenz daraus.
Ich habe oft eine klare In-Bezug-Setzung und Bewertung von Sekundärliteratur und Studien vermisst; Elsens Einschätzung ist nicht immer leicht zu erkennen, auch weil sie keinen Zitier-Konjunktiv benutzt; das erfordert unnötig hohe Konzentration beim Nachvollziehen.
Zu oft fehlen Informationen zur Durchführung von Experimenten und Studien: Aufbau, Art und Weise, wo, mit wem (Alter, Schicht, Kultur etc.), von wem, in welchem Land. Sind die Ergebnisse noch aktuell, auf Deutsch(land) anwendbar und welchen Vorbehalten unterliegen die Ergebnisse gegebenenfalls? Auch hier: Elsen deutet einige dieser Aspekte selbst an (S. 91: „Bei den meisten dieser Experimente ist es etwas problematisch, dass die Versuchspersonen fast immer Studierende waren“ und S. 168: „die meisten Studien arbeiten mit weißen Mittelschichtskindern aus den USA“), vernachlässigt diese Problematik aber in ihrer Darstellung.
Und manchmal fehlt sogar das Ergebnis, zum Beispiel hier: „Auch scheint die Gruppengröße unterschiedliche Redeverhalten nach sich zu ziehen“ (S. 170). Nämlich welche …?
Elsen führt eine Studie von 2001 an, die zum sprachlichen Gendern herausgefunden habe, bei Voreingenommenheit hätten Alternativformen kaum Wirkung (S. 95). Wirkung auf wen, auf was, wie war das Setting und welche Konsequenzen soll ich als Sprachpraktikerin daraus ziehen oder auch nicht und warum (nicht)?
Zu den Unterrichtstipps: „Meiden Sie stereotype Aussagen! Meiden Sie stereotypes Handeln!“ (S. 233) – ich unterstelle, so weit sind alle Leser+innen bereits, deshalb haben sie sich dieses Buch besorgt; sie hoffen auf Hilfe zum Wie. Die Vorschläge in Kapitel 14.4.1 „Grundschule“ halte ich sogar für kontraproduktiv. Nichts gegen Schulbuchanalyse als Unterrichtsgegenstand, aber nicht mit Fragen aus dem Jahr 1982 („Ist meine Mutter zusätzlich zum Haushalt noch berufstätig?“); auch befürchte oder vielmehr hoffe ich, dass das Ergebnis bei neueren Schulbüchern nicht mehr so eindeutig sein wird, damit aber auch weniger plakativ und weniger leicht interpretierbar. In Kapitel 14.2 „Verfahrensplan“ und in der To-do-Liste in Kapitel 14.4.2 „Ab 5. Klassenstufe“ fordert Elsen dazu auf, geschlechtsneutrale Formulierungen zu verwenden, von denen sie ja aber sagt, sie brächten keine Verbesserung (s. o.).
Elsen gibt viele Hinweise, wo Unterrichtsanregungen zu finden sind, doch ich erwarte eigentlich, dass die Autorin aus der Fülle der Tipps (dieses Kapitel hat die längste Literaturliste) repräsentative heraussucht, sie vor allem reflektiert, z. B. mit ihren eigenen Aussagen abgleicht, und ggf. Anpassungsvorschläge macht.
Elsen bürdet der Leser+in viel Lesearbeit auf
Ein abschließender Durchgang einer nicht in den Entstehungsprozess involvierten Lektor+in hätte dem Buch gutgetan. Es gibt Unlogiken, Inkonsequenzen, falsche Anschlüsse, Unverständliches, Wiederholungen ohne Zugewinn, arg verkürzte Argumentationen oder Darstellungen, unpassende Textabschnitte, schiefe Formulierungen. Insgesamt sieht das nach den klassischen Fehlern aus, die nun mal entstehen, wenn ein Text überarbeitet wird, in diesem Fall wahrscheinlich gekürzt.
Für die Leser+in sind das viele Irritationen, die den Lesefluss stark hemmen und damit Aufmerksamkeit vom Eigentlichen abziehen. Das ist nicht gut, denn das Thema ist komplex.
Hier nur wenige Beispiele von Lesehemmnissen in loser Reihenfolge:
- Wiederholung der Erklärung von sex auf S. 29. Zweimal derselbe Hinweis auf S. 75 zum sogenannten generischen Maskulinum, dass im Sprachalltag nicht genau zwischen klassenbezogener und spezifischer Referenz unterschieden wird; und auf der folgenden Seite steht’s auch noch mal.
- Weil Elsen vertritt, dass es kein generisches Maskulinum gibt, sollte der Begriff immer in Anführung stehen oder mit sogenannt versehen sein.
- Bei Folgendem hätte ich doch gern mehr Kontext gehabt, S. 114: „[…] zeigen für Italien, dass Werbung mit Mädchen als Sexualobjekt [Liste der Merkmale] bei acht- bis zehnjährigen Mädchen zu schlechteren Mathematikleistungen führt.“ Der Verweis auf das Kapitel 7.5.2 „Stereotypbedrohung“ reicht da nicht. Auf S. 118 steht die Aussage noch einmal, diesmal mit Verweis auf Kapitel 11.2 „Werbung“.
- Ärgerlich sind auch-Formulierungen, wenn gar keine Auch-Situation besteht (z. B. S. 223, unten). Als Leser+in muss ich erst einmal annehmen, ich habe etwas überlesen und gehe ein, zwei Absätze zurück. Aber weder hat vor dem zitierten Autor jemand für dasselbe wie er plädiert, noch spricht er sich (hier zumindest nicht) für eine Balance aus, so dass das ebenfalls des nächsten Satzes auch keinen Bezug hat.
- Auf S. 220 stehen zwei gute Beispiele dafür, dass schlusiges Formulieren zu Unklarheit und damit unnötiger Lesearbeit führt: „Grundsätzlich beachteten Lehrer Schüler etwas mehr als Lehrerinnen“ und „In diesen beiden Studien suchten die Mädchen nicht mehr Kontakt zu den Lehrkräften“.
Oder aus der Zusammenfassung des Neurobiologie-Kapitels: „Die wenigsten dieser Faktoren können in Isolation betrachtet werden, da es immer wieder zu gegenseitigen Einflüssen kommt.“ – Die wenigsten Faktoren?! Ja, für welche sollte das denn nicht gelten?!
- Im Geschichte-Kapitel springt Elsen von 1848 ohne Überleitung ins Jahr 1949, dann wieder an den Anfang des 20. Jahrhunderts, erst danach geht’s chronologisch bis in die 1970er-Jahre (S. 31/32). Beim Faktor Testosteron geht es inhaltlich hin, her und wieder zurück: pränatal, Erwachsene, pränatal (S. 140/41). – Solche Sprünge ziehen Aufmerksamkeit ab. Das bewirken ebenso Schreibungen wie „Jäger und Sammler(innen)“ (S. 55), denn so ausgemacht scheint mir das nicht zu sein, dass Frauen nicht auch gejagt haben.
Fazit
Es steckt viel drin in diesem Buch, selbstverständlich findet die Leser+in reichlich Beispiele für den Einfluss von Sprache auf die Geschlechterrealitäten und ich freue mich über das zusätzliche Argument gegen die Frauen-seien-mitgemeint-Fußnoten, sie führten nämlich „zu einer noch stärkeren Assoziation der generischen Maskulina mit Männern“ (S. 90). Aber insgesamt sind die Informationen, Aussagen, Studien etc. wenig aufeinander bezogen, die Leser+in muss viel selbst zusammenführen, einordnen und ihre Schlüsse für den Transfer ins Praktische ziehen. Die oben genannten Kritikpunkte wären jeder für sich nur mehr oder weniger schlimm. Es ist die Fülle der Lesehemmnisse, sie kosten die Leser+in nicht nur unnötig Zeit und Energie, sie verunsichern auch, verringern das Vertrauen in diese Arbeit der Autorin. Jedenfalls ging es mir so. – Schade! Es ist ein dermaßen cooles Cover!
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Angelika Pohl: Website und Profil im VFLL-Verzeichnis lektor-in-finden.de